Etwa 20 solidarische ProzessbeobachterInnen wohnten dem neuten Verhandlungstag gegen die beiden Antifaschisten Jo und Dy vor der 3. Jugendstrafkammer der Stuttgarter Landgerichts bei. Zum ersten Mal seit Beginn des Prozesses verzichtete die Stuttgarter Polizei auf eine größere Abordnung Bereitschaftspolizei bzw. BFE. Trotzdem war das Gerichtsgebäude weiträumig mit Hamburger Gittern abgesperrt, auch die Durchsuchungsmaßnahmen und die Präsenz der Sicherungsgruppe Stuttgart blieben. Der Nebenklageanwalt und CDU-Landtagsabgeordnete Reinhard Löffler lies sich entschuldigen, im Publikum war lediglich Zieglers Lebensgefährtin „Chrissi“ Schmauder mit ihrem Junge Freiheit-Presseausweis anwesend. Die Verhandlung begann um 9.10 Uhr und endete bereits um 11.15 Uhr.
ZeugInnenaussagen
Lediglich zwei polizeiliche ZeugInnen waren am heutigen Prozesstag geladen. Die erste Zeugin, eine 30-jährige Oberkommissarin aus dem Polizeipräsidium Stuttgart, Dezernat 11, war Teil der am 18.5.2020 gegründeten Ermittungsgruppe. Sie hatte sich mit den Verletzungen der Nazis Dippon und Ziegler beschäftigt und dazu gemeinsam mit Kollegen u.a. Andreas Ziegler im Krankenhaus und Zuhause besucht. Neue Erkenntnisse lieferte die Aussage nicht, letztlich bestätigte die Polizeibeamtin vor allem die ihr vom vorsitzenden Richter vorgelesenen, ursprünglich von ihr verfassten, Berichte. Dabei ging es auch um die Genesung von Ziegler, welche, entgegen ärztlicher Prognosen, erstaunlich schnell und letztlich umfassend verlaufen sei. Das ZA-Mitglied Ziegler war bereits wenige Wochen nach der Tat in die Emstalklinik bei Bad Urach zur Reha verlegt worden.
Einzig ein von der Zeugin mit dem Nebenkläger Dippon geführtes Gespräch bei dessen DNA-Abgabe einige Tage nach dem Angriff lies die ProzessbesucherInnen und die Verteidigung aufhorchen. Jens Dippon war dabei nach unterschiedlichen Gegenständen gefragt worden, die am Tatort gefunden wurden, darunter auch die beiden Schlagringe. Auf die offene Frage habe Dippon sofort geantwortet, dass er diese Ringe nicht Andreas Ziegler zuordne. Der dritte Nazi, Ingo Thut, spielte in der Zuordnungsfrage augenscheinlich keine Rolle, womit von einer bewussten Entlassung Zieglers durch Dippon auszugehen ist.
Der zweite Polizeizeuge war ein 23-jähriger Kriminalkommissar, ebenfalls aus dem Polizeipräsidium Stuttgart, jedoch aus der Abteilung Kriminaltechnik. Der junge Beamte hatte die Kleidung untersucht, die am Tattag bei der Kontrolle von Jo sichergestellt wurde. Spannend ist in diesem Zusammenhang der Sicherstellungsprozess durch eine Göppinger BFE-Einheit. Diese hatte, entgegen der Vorschriften, Jo‘s Sweatshirt sowie ein Paar bei ihm gefundene Arbeitshandschuhe, in eine gemeinsame Tüte verpackt. Der vernommene Kriminaltechniker hatte die drei Aservate ausgepackt, untersucht und separat verpackt. Sowohl am Sweatshirt als auch den Handschuhen konnte kein Blut festgestellt werden, lediglich an einem Handschuh sicherte die Polizei später DNA von Andreas Ziegler. Durch die „Spurenverschleppung“ des BFE ist jedoch unklar ob die an den Handschuh kam, weil Ziegler mit ihm geschlagen wurde, oder ob die DNA vom Sweatshirt im Aservatenbeutel übertragen wurde. Auf Rückfrage der Verteidigung gab der Beamte an, dass zweiteres absolut möglich sei.
Im weiteren Prozessverlauf verlas der Vorsitzende Richter noch fünf Aktenvermerke, die sich allesamt mit Spuren am Tatort befassten und keine neuen Erkenntnisse brachten. Weil jedoch gleichzeitig Lichtbilder zu den Vermerken gezeigt wurden, konnten sich die ProzessbesucherInnen erstmalig ein Bild von der umfangreichen Schutzausrüstung Andreas Zieglers machen. Bilder der Ellenbogenschoner sowie der großen Knie- und Schienbeinprotektoren und der Handschuhe wurden gezeigt. Die Fotos bestärkten den Eindruck, dass Ziegler sich auf eine entschiedenere Auseinandersetzung mit anderen eingestellt hatte.
Risse in der Nebenklage
Neben dem prozessualen Ablauf ist auch die Entwicklung der Nebenklage interessant. Von der durch Zentrum Automobil im Vorfeld großspurig angekündigten „medialen Begleitung“ und der „Aufdeckung von Netzwerken“ ist wenig geblieben. Nur selten lassen sich die Führungsfiguren blicken, die mediale Verwertung erstreckt sich lediglich auf das Kopieren von Artikeln aus der bürgerlichen Presse und den Mitschrieben Christiane Schmauders zu den einzelnen Prozessentagen.
Auch das Kollektiv der Nebenkläger Dippon, Thut und Ziegler scheint zerbrochen. Während Ziegler und seine Lebensgefährtin Schmauder von den AfD-Sicherheitverantwortlichen Lobstedt senior und junior zum Gerichtsgebäude gebracht werden, reisen Thut und Dippon sepparat an und ab. Im Gebäude wird kaum miteinander gesprochen.
Im Anschluss an den Verhandlungstag grüßten die solidarischen ProzessbesucherInnen wie üblich Dy, der vom Gerichtsgebäude in die JVA gefahren wurde.
Der „Wasen-Prozess“ macht in der kommenden Woche Pause und wird erst am 28. Juni sowie am 5. Juli fortgesetzt. An beiden Tagen sind ermittelnde PolizeibeamtInnen sowie Sachverständige geladen.
Der nächste Prozesstermin findet am 28. Juni 2021 in Stammheim statt. Wir rufen erneut zur solidarischen Prozessbegleitung ab 8 Uhr auf.