Nach einwöchiger Pause wurde der „Wasen“-Prozess in der letzten Juni Woche mit dem 10. Verhandlungstag fortgesetzt. Knapp 30 solidarische ProzessbesucherInnen wohnten dem Verfahren im OLG-Gebäude in Stuttgart-Stammheim bei. Der Prozess startete um 9.30 Uhr und endete um 16.15 Uhr. Geladen waren zwei unbeteiligte AugenzeugInnen sowie mehrere ermittelnde Polizeibeamte. Der Nebenkläger Jens Dippon nahm nicht am Verfahren teil, im ZuschauerInnenraum verweilte von rechter Seite aus einzig Andres Zieglers Lebensgefährtin Christiane Schmauder mit ihrem „Junge Freiheit“-Presseausweis. Zum Gerichtsgebäude wurde sie erneut von den beiden AfD‘lern Frank und Jochen Lobstedt gebracht.
Augenzeugen berichten
Zwei weitere Augenzeugen schilderten vor Gericht ihre Eindrücke vom Tattag. Als erstes sagte ein Querdenken-Teilnehmer aus, der mit Gleichgesinnten im Auto zur Kundgebung angereist war und in Sichtweite des Tatorts geparkt hatte. Seine Mitinsassen waren bereits an vorherigen Prozesstagen geladen. Der Zeuge konnte nichts neues zur Rekonstruktion des Tatablaufs sagen, betonte aber, dass er sich über einen „sehr fülligen“ Kameramann gewundert habe, welcher die am Boden liegenden Nazis filmte und die Aufnahmen Umstehenden zeigte anstatt zu helfen. Gemeint ist damit wohl der faschistische Filmemacher Simon Kaupert aus Halle an der Saale.
Der zweite Augenzeuge war als Radfahrer am Tattag auf der Mercedessstraße unterwegs. Auch in seinen Ausführungen kamen keine neuen Erkenntnisse zu Tage. Beide konnten keine Personen erkennen.
PolizeibeamtInnen kontrollieren
Wesentlich spannender gestalteten sich die Aussagen mehrerer PolizistInnen. Als erstes wurde ein Polizeihauptmeister des BFE in den ZeugInnenstand gerufen. Er hatte am Tattag die Dreiergruppe um Jo auf der anderen Seite des Neckars kontrolliert. Wichtigster Teil seiner Aussage war der UmgPolizeibeamtInnen kontrollierenang mit den bei den Kontrollierten gefundenen und gesichterten Gegenständen. Es stellte sich heraus, dass der Beamte seine normalen Diensthandschuhe beim Abtasten aller Kontrollierten trug und diese auch nicht wechselte, als er die beschlagnahmten Gegenstände in Plastiktüten verpackte. Diese Schilderungen sind nicht unbedeutend. Schon an vergangenen Prozesstagen war die Frage einer möglichen Spurenübertragung Thema. Zwar wurden an Jo‘s Handschuhen eine DNA-Spur des geschädigten Nazis Ziegler gefunden, jedoch ist nach wie vor nicht geklärt wie diese Spur auf die Handschuhe kam.
Ein zweiter Beamter der BFE-Truppe, seines Zeichens Polizeiobermeister, hatte sich augenscheinlich mit seinem Kollegen in der Pause abgesprochen. Unaufgefordert ging er in seinen Schilderungen auf eine mögliche Spurenübertragung ein und betonte mehrmals sich in dieser Hinsicht dem Protokoll entsprechend korrekt verhalten zu haben. Der BFE‘ler hatte jedoch nicht Jo, sondern andere Verdächtige kontrolliert.
PolizeibeamtInnen ermitteln
Die Aussagen zweier Mitglieder der Ermittlungsgruppe „Arena“, welche zum Angriff auf die Zentrum-Automobil-Mitglieder ermittelte, rundeten den 10. Verhandlungstag ab. Den Anfang machte eine Kriminalkommissarin, welche unter anderem die Filmaufnahmen von Simon Kaupert vom Tattag ausgewertet hatte. Die Beamtin hatte aus den verwackelten Sequenzen Einzelbilder von mutmaßlich Tatbeteiligten herausgeschnitten und eine Lichtbildmappe mit verpixelten Bilder erstellt und diese der Ermittlungsgruppe zur Verfügung gestellt. Zudem war sie mögliche Fluchtrouten vom Tatort abgelaufen und hatte Zeiten gemessen – sehr wahrscheinlich um zu belegen, dass die Gruppe um Jo an der Tat hätte beteiligt gewesen sein können. Jo und weitere waren auf der anderen Neckarseite im Stuttgarter Stadtteil Wangen in der Zeit nach der Tat in der Nähe einer U-Bahn Station kontrolliert worden. Die aussagende Kriminalkommissarin hat sich zudem mit den bei der Hausdurchsuchungswelle am 2. Juli 2020 beschlagnahmten Handys und Computern beschäftigt und die auf den Handys gefundenen Chats auf Tatbezüge durchsucht sowie eine Funkzellenauswertung vom Tatort vorgenommen. Die Funkzellenauswertung hatte keine Treffer ergeben, auf den Computern wurden ebenfalls keine relavanten Daten gefunden und so fand die Beamtin wohl auch in den Chats keine Tatbezüge. Auf inhaltliche Nachfragen zu der Handyauswertung durch Verteidigung und Nebenklage war sie nicht vorbereitet und wird ein weiteres mal geladen.
Der Nebenklageanwalt Durbavko Mandic aus Freiburg regte im Zuge der Aussage an, alle am Tattag in die Funkzelle am Stadion eingeloggten Handys bzw. ihre BesitzerInnen zu überprüfen. Zudem interessierte er sich stark für Chatgruppen und versuchte erneut, Bezüge zwischen Beschuldigten und gewerkschaftlichen Kreisen herzustellen und daraus eine „Befehlskette“ abzuleiten. Die an sich schon krude These eines in Gewerkschaften geplanten Angriffs wird dann fast lächerlich, wenn als Beleg dafür die Mitgliedschaft in gewerkschaftlichen Chattgruppen herangezogen wird: Schließlich sind die allermeisten linken AktivistInnen logischer- und selbstverständlicherweise Teil gewerkschaftlicher Organisierung und gewerkschaftlicher Kämpfe. So wie mehrere Millionen weiter Menschen in der Bundesrepublik.
Der letzte am heutigen Verhandlungstag vernommene Zeuge war ein Kriminalhauptkommisar, der als Hauptsachbearbeiter der Ermittlungsgruppe „Arena“ fungierte. Er hatte nicht selbst ermittelt, sondern lediglich die Ermittlungsergebnisse anderer schriftlich zusammengetragen. Seine Aussage brachte in zweierlei Hinsicht neue Erkenntnisse ins Verfahren. Zum einen gab er zu Protokoll, dass Dy bereits eine Woche vor der Tat an gleicher Stelle einer Personalienfeststellung unterzogen worden war. Zum anderen wurde deutlich, dass das Tierabwehrgerät, welches am Tatort gefunden wurde, bei der Übergabe an den LKA-Waffentechniker noch geladen war. D.h. es ist unklar, ob das Gerät überhaupt verwendet wurde. Beim LKA wurde das Gerät mittlerweile jedoch zu Untersuchungszwecken abgefeuert. Die Verteidigung interventierte an der Stelle und erklärte, das Gerät sei deswegen nicht mehr als Beweis verwendbar. Der aussagende Polizeibeamte rechtfertigte sich: Er sei einfach davon ausgegangen, dass das Gerät verwendet wurde und deswegen hätte es nicht separat untersucht werden müssen.
Stellungnahme der Verteidigung
Die Verteidigung regte in einer Erklärung an sich im laufenden Verfahren mehr mit den Hintegründen und dem Netzwerk um die geschädigten Nazis zu befassen – Anlass dazu ist u.a ein in der Wochenzeitung Kontext kürzlich veröffentlichter Hintergrundartikel (LINK) in dem Verbindungen von Zentrum Automobil bis hin ins rechtsterrosistische Milieu beschrieben werden. Die Verteidigung stellt die Glaubwürdigkeit des Hauptgeschädigten Nazis Andreas Ziegler in Frage und kritisiert dessen provokantes und drohendes Auftreten im Gerichtssaal. Als weiterer Aspekt wurde der Messerfund bei Oliver Hilburger an einem Verhandlungstag angeführt. Zudem regten die Verteidiger an, die von Zentrum Automobil produzierten Videos zum „Wasen-Ereignis“ in Augenschein zu nehmen. Auch diese würden belegen, dass nicht nur die Glaubwürdigkeit von Andreas Ziegler fragwürdig sei, sondern auch Simon Kaupert und der Nebenklageanwalt Mandic vor Gericht sehr wahrscheinlich Tatsachen verdreht hätten.
Bereits in einer Erklärung am 7. Prozesstag (LINK) hatte die Verteidigung einen anderen Tatablauf ins Spiel gebracht. Ihrer Aufassung nach kann der Schlägerei zwischen AntifaschistInnen und Nazis eine verbale Auseinandersetzung vorausgegangen sein in deren Ablauf sich Andreas Ziegler bewaffnete und damit die Schlägerei auslöste. Die heute angeführten Verbindungen sowie der Hinweis auf die Lügen des Ziegler und die Bewaffnung von Hilburger lassen einen solchen Ablauf nicht unwahrscheinlich erscheinen.
Der „Wasen-Prozess“ wir am 5. Juli 2021 fortgesetzt. Geladen sind mehrere Sachverständige, darunter ein Waffentechniker sowie eine DNA-Technikerin.
Wir rufen erneut zur solidarischen Prozessbegleitung ab 8 Uhr auf.