Am 2. Juli 2020 wurden in mehreren baden-württembergischen Städten, darunter Karlsruhe, Ludwigsburg, Tübingen und Stuttgart, insgesamt neun Wohnungen von AntifaschistInnen durchsucht. Bei fast allen Betroffenen wurde im Anschluss an die Durchsuchung eine DNA-Entnahme, teilweise unter Zwang, vorgenommen. Der Antifaschist Jo sitzt seit der Durchsuchung in Untersuchungshaft in Stuttgart-Stammheim.
Die Hausdurchsuchungswelle Anfang Juli steht laut Stuttgarter Polizei im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung zwischen Nazis und AntifaschistInnen am Rande der „Querdenken 711“-Demo am 16. Mai 2020 am Cannstatter Wasen. Allen Durchsuchten wird vorgeworfen an diesem Tag an einem Angriff auf den Treffpunkt der faschistischen Scheingewerkschaft „Zentrum Automobil“ unweit der Mercedes-Benz-Arena beteiligt gewesen zu sein. Im Verlauf der Auseinandersetzung wurden mehrere Nazis verletzt, einer von ihnen schwer.
Die Polizei ermittelt seitdem mit der eigens eingerichteten Ermittlungsgruppe „Arena“ wegen Landfriedensbruch und versuchtem Totschlag gegen die antifaschistische Bewegung. Im Vorfeld aber auch im Nachgang der Hausdurchsuchungen kam es zu polizeilichen Anquatschversuchen, offenen Observationen und staatsanwaltschaftlichen Vorladungen.
Corona-Demos, Querdenken, Zentrum-Automobil – Was ist los in Stuttgart?
Kurz nach Beginn der Corona-Pandemie entstand in Stuttgart eine neue, rechts-offene Massenbewegung: „Querdenken 711“. Initiiert von einem Stuttgarter IT-Unternehmer versammelten sich im Frühjahr 2020 bis zu 20.000 Menschen auf dem Volksfestgelände am Neckar. Mitunter weil sich der Initiator als überparteilich darstellte und sich nicht konsequent von Rechts distanzierte, wurden die „Corona-Demos“ schnell zum Nährboden für rechtes Gedankengut: Reichsfahnen, „Merkel muss weg“-Schilder, „Wir sind das Volk“-Parolen, Runen-Tattoos, „Lügenpresse“-Shirts… Unter den Teilnehmenden befanden sich neben ImpfgegnerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen, auch Nazi-Kameradschaften, AfD-Landtagsabgeordnete und Mitglieder der Identitäten Bewegung. Die Rechten bewegten sich völlig frei auf der Kundgebung und wurden als „natürlicher“ Bestandteil akzeptiert.
Unter ihnen befanden sich auch Mitglieder des faschistischen Vereins „Zentrum Automobil“, der als Scheingewerkschaft vor allem in den Daimler-Werken in Stuttgart-Untertürkeim aktiv ist. „Zentrum Automobil“ ist vereinfacht gesagt der betriebliche Arm des faschistischen „Flügels“ in der AfD. Der Kopf des Vereins, Oliver Hilburger aus Althütte im Rems-Murr-Kreis, war jahrzehntelang fester Bestandteil des rechtsterroristischen Netzwerks „Blood & Honour” und darüber hinaus Mitglied der Rechtsrockband „Noie Werte”, deren Musik das NSU-Bekennervideo untermalte. Unter Hilburgers Führung sucht „Zentrum Automobil“ in den vergangenen Jahren die Nähe zur AfD, dem rechten Compact-Magazin und der „Identitären Bewegung“. Gleichzeitig hetzt der Verein im Betrieb gegen gewerkschaftlich organisierte KollegInnen und ergreift Partei für rassistische Angestellte. Dabei ist Oliver Hilburger nicht das einzige Mitglied mit einschlägiger Vergangenheit. Das Zentrum-Mitglied Rico Heiße beantragte Knastbesuche für NSU-Unterstützer, Zentrum-Betriebsrat Hans Jauß war Schatzmeister der verbotenen „Wiking-Jugend” und mit Zentrum-Aktivist Simon Kaupert bestehen Überschneidungen zur “Identitären Bewegung”, „Ein Prozent“ und der “Jungen Alternative”.
Begleitet von antifaschistischen Protesten bricht die Bewegung Mitte Mai 2020 in sich zusammen. Den offen rechten Kräften ist es nicht gelungen das Ruder an sich zu reißen und der massive antifaschistische Widerstand macht eine Teilnahme für viele Menschen vorerst unattraktiv. Teil der Gegenproteste waren neben Flugblattverteilung, Outingplakaten und Störaktionen auf dem Wasengelände auch direkte Interventionen. Mehrfach wurden Nazis rund um die „Corona-Demos“ angegriffen, so auch am 16. Mai 2020 der Treffpunkt von „Zentrum Automobil“.
Jetzt erst recht: Antifaschismus ist notwendig.
In Zeiten einer immer weiter voranschreitenden Rechtsentwicklung der Gesellschaft und neu aufkeimender rechter Massenbewegungen ist es nur folgerichtig, dass Menschen antifaschistisch aktiv sind und den Nazis entgegentreten. Erfolgreicher Antifaschismus lebt jedoch immer von seiner Vielschichtigkeit: Aufklärungsarbeit, Gegenproteste, Mahnwachen, Blockaden aber auch direkte Angriffe. Denn dort, wo Nazis sich wohlfühlen, breiten sie sich aus, verbreiten ungehindert menschenverachtenden Hetze und bedrohen das Leben aller, die nicht in ihr Weltbild passen. Mehr als 200 Menschen wurden seit 1990 in der BRD durch Nazis ermordet. Zuletzt in Hanau und Halle. Direktes Vorgehen gegen Nazis aller Couleur ist in Anbetracht dieser Entwicklungen Teil eines bitter notwendigen antifaschistischen Selbstschutzes.
Natürlich kann es zu verschiedenen Aktionsformen im Kampf gegen Rechts unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen geben, das ist völlig legitim und Diskussionen dazu sind innerhalb der linken Bewegung unabdingbar. Klar ist aber auch: Ein Angriff auf einige von uns ist ein Angriff auf alle. Deswegen solidarisieren wir uns mit dem Beschuldigten und allen Betroffenen.
Für Solidarität – gegen Repression und Spaltung.
Die Durchsuchungen vom 2. Juli 2020 sind ein staatlicher Angriff auf die antifaschistische Bewegung. Sie sind auch das Ergebnis der wochenlangen, bewussten Stimmungsmache gegen Links in Stuttgart. Während die bürgerliche Politik in Person von Innenminister Strobl die Durchsuchungen mit dem Satz „Wir kriegen euch“ kommentiert, hatte sich die lokale Presselandschaft schon vor den Durchsuchungen mit der unkritischen Berichterstattung über „Querdenken 711“ und der Hetze gegen die antifaschistischen Proteste hervorgetan.
Das alles geschieht nicht ohne Grund. In Zeiten einer immer präsenter werdenden Wirtschaftskrise ist es für staatliche Akteure wichtig, fortschrittliche Antworten und Perspektiven möglichst großflächig zu delegitimieren. Dazu zählt euch ein kämpferischer Antifaschismus, der isoliert und eingemacht werden soll. Gleichzeitig steht die Stuttgarter Polizei unter Druck, hat sie doch nach den Auseinandersetzungen rund um den Wasen wenig an konkreten Ermittlungserfolgen vorzuweisen. Es deutet alles darauf hin, dass an Jo ein Exempel statuiert werden soll.
Diese Angriffe, die Einschüchterungs- und Spaltungsversuche gilt es durch die gemeinsame Solidarität aufzufangen und ins Leere laufen zu lassen. Wenn der Staat aktive AntifaschistInnen derart massiv angreift und versucht anhand der Gewaltfrage die Bewegung zu spalten, während Faschisten aus Bundeswehr und Polizeiapparat Waffen und Sprengstoff horten und sich konkret auf einen Bürgerkrieg vorbereiten, ist es absolut notwendig über Spektren und Milieus hinweg zusammenzustehen.
Egal ob auf der Straße, im Betrieb, vor den Staatsanwälten und Richtern: Antifaschistisch ist legitim und bleibt notwendig!