29. September 2021: Bericht zum 20. Prozesstag

Am 20. Prozesstag fanden sich circa 40 solidarische Prozessbeobachter:innen am OLG in Stammheim ein. Da parallel wieder eine andere Verhandlung stattfand, musste wieder auf den kleinen Sitzungssaal ausgewichen werden. Hauptaugenmerk des heutigen Prozesstages lag auf den Plädoyers, die nach wochenlanger Verzögerung durch die Nazi-Nebenklage verlesen wurden. Der Prozess begann um 9.25 Uhr und endete um 17.00 Uhr.

Aufgrund eines bereits am Vortag gestellten Antrags wurde zu Beginn der Verhandlung, die stellvertretende Leiterin der JVA Stammheim zu den Vorwürfen der angeblichen Bedrohung durch Dy vernommen. Diese konnte allerdings keine belastenden Aussagen treffen.

Die restlichen Anträge der Nebenklage wurden allesamt abgelehnt, da es sich hierbei erneut um keine Beweisanträge handelte. So beantragte Nazianwalt Mandic die Aussetzung des Verfahrens, da ihm angeblich Akten zur Einsicht fehlen würden. Dass er in der Vergangenheit allerdings aus genau diesen zitierte konnte er nicht erklären.
Anschließend wurde die Beweisaufnahme geschlossen, und nach einer Pause die Plädoyers verlesen.

Den Beginn machte hierbei die Staatsanwältin, die trotz der uneindeutigen Beweislage, die rein auf Indizien beruht, auf eine Verurteilung wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie Landfriedensbruch in besonders schwerem Fall plädierte. Das Strafmaß setzte sie bei Jo auf 5 Jahren und bei Dy auf 6 Jahren Freiheitsstrafe an.
Dieser Forderung schloss sich Nebenklageanwalt und CDU-Landtagsabgeordneter Löffler an, der zwar eine Einmischung durch die Politik, anders wie Mandic nicht in Betracht zog, dennoch die bereits bekannte Argumentation der großen Verschwörung aus Antifa und Gewerkschaft gegen Zentrum Automobil wiederkäute.
Diese absurde Theorie wurde nur vom ehemaligen AfD-Mitglied und Anwalt des Hauptgeschädigten Zieglers, Dubravko Mandic, übertrumpft. Diese sah eine Verschwörung von Antifa und Politik gegen sich und seine Mandanten.Demnach hätte die Justiz bewusst die Ermittlungsarbeit behindert, da von Seiten der baden-württembergischen Landesregierung ein politisches Interesse an der Bekämpfung von „Querdenkern und Andersdenkenden“ bestehe. Dass sein Kollege Löffler eben jener Regierung angehört, störte ihn dabei keineswegs.

Den Schluss der Plädoyers machten die beiden Verteidiger der Angeklagten, die in ihren Verlesungen erklärten, dass sich die Beweislage rein auf Indizien beruht und sämtliche relevanten Beweismittel auf Auslegungssache und Interpretation der Beteiligten aufbauen würden. Zudem kritisierten sie die teils unsaubere Arbeit der Polizei, die sowohl bei der Asservierung, als auch bei der Ermittlung wichtige Punkte nicht berücksichtigt hatten.
Aufgrund dieser mangelnden Beweislage im Bezug auf die geltende Rechtsprechung forderten sie folgerichtig einen Freispruch für beide Antifaschisten Jo und Dy.
Das letzte Wort, der Angeklagten nutzte Jo für eine Prozesserklärung, die unten angehängt ist.


Am Mittwoch den 13.09.21 9:00 Uhr findet die Urteilsverkündung statt.
Hierzu rufen wie ein letztes mal zur solidarischen Prozessbegleitung
auf. Lasst uns Jo & Dy zeigen, dass wir hinter ihnen stehen, sie weiterhin begleiten und unterstützen werden, völlig egal welches Urteil am Ende des Tages gefällt werden sollte! Zur solidarischen Prozessbegleitung wird es ab 8.00 Uhr eine Kundgebung vor dem OLG in Stuttgart Stammheim stattfinden.

Prozesserklärung:

Bald soll hier das Urteil im sogenannten „Wasen-Prozess“ gegen Diyar und mich verkündet werden. Uns wird vorgeworfen, an einer Auseinandersetzung mit Mitgliedern des faschistischen Betriebsprojekts „Zentrum Automobil“ beteiligt gewesen zu sein. Diese fand statt im Umfeld der rechtsoffenen, kleinbürgerlichen Massenmobilisierungen von „Querdenken711“ in Stuttgart und war zusammen mit diversen Aktivitäten gegen die vielseitige faschistische Beteiligung, dem Verbreiten von Verschwörungstheorien und Holocaustrelativierungen, Grund dafür, dass diese von den Organisatoren auf der Höhe ihres Erfolgs pausiert wurden.

Zentrum Automobil stellt sich gerne als Gewerkschaft und Kümmerer für uns Arbeiter und Arbeiterinnen dar und spricht gerne Herausforderungen an, die uns als arbeitende Bevölkerung nur zu gut bekannt sind: Dieselverbote, drohende Altersarmut, ein kaputtgespartes Gesundheitssystem, Leiharbeit, Entlassungen. Doch anstatt die Arbeiterklasse zu vereinen, um entschiedene betriebliche Kämpfe gegen all diese Probleme und letztendlich deren Ursache – den Kapitalismus – zu führen, spaltet das Zentrum die Belegschaften und versucht, die Gewerkschaften, also die Organisationen, mit denen wir unsere Rechte erkämpfen, zu schwächen. Natürlich ist eine Kritik an den sozialdemokratisch geführten DGB-Gewerkschaften berechtigt und notwendig, deren Unfähigkeit ergibt sich aber nicht aus deren angeblich „globalistischer“ Ausrichtung, sondern aus der Abkehr vieler Gewerkschaftsfunktionäre vom Klassenkampf, also der Durchsetzung unserer Interessen gegen die der Großkonzerne und Manager mithilfe von Arbeitskämpfen wie zum Beispiel Streiks. Der Schutz der Beschäftigten vor Kündigung beschränkt sich bei Zentrum Automobil außerdem auf einige wenige Fälle, in denen Mitarbeiter aufgrund von rassistischer Hetzte gegen Kollegen rausgeschmissen wurden, alle anderen Entlassungen sind dem Zentrum scheinbar egal. Mit ihrer Betriebsarbeit stimmen sie mit dem Konzept der „Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation“ (NSBO) überein. Die NSBO war ein Zusammenschluss von Faschisten der NSDAP auf betrieblicher Basis mit dem Ziel, die Arbeiterklasse zu spalten und die kämpferischen linken Gewerkschaften zu schwächen und so letzten Endes die Interessen der Herrschenden zu schützen. Das ist kein Zufall, besteht die Zentrums-Führungsriege doch zum Großteil aus ehemaligen und aktiven Faschisten.

Chef der Organisation ist Oliver Hilburger, der fast zwei Jahrzehnte lang Gitarrist der Nazi-Band „Noie Werte“ war. Diese waren national und international in der Naziszene bekannt und verehren in ihren Liedern u.a. den NS-Kriegsverbrecher Rudolf Hess. Außerdem nutzten die Rechtsterroristen des „Nationalsozialistischen Untergrund“ ein Lied der Band in ihrem Bekennervideo.
Hans Jaus, der hier im Prozess als Zeuge aussagte, war früher Bundesschatzmeister der „Wiking-Jugend“, die als Nachfolge der „Hitler-Jugend“ agierte und 1994 verboten wurde.
Andreas Brandmeier, auf dessen Konto die Spenden für die drei Nebenkläger eingingen, verschickte per Mail Hakenkreuzbilder mit der Inschrift „Der deutsche Gruß heißt Heil Hitler“.
Rico Heise, ebenfalls Zeuge in diesem Prozess, ist langjähriger „Blood & Honour“-Aktivist, veranstaltete Nazikonzerte und war Chef der Nazi-Gruppe „Kreuzritter für Deutschland“, außerdem läuft ein Strafverfahren gegen ihn wegen Falschaussage vor dem NSU-Untersuchungsausschluss.
Sascha Woll, bei den Betriebsratswahlen 2018 Listenplatz 14 von Zentrum Automobil, war ebenfalls Mitglied bei den „Kreuzrittern für Deutschland“ und ist mit der NPD-Aktivistin Heike Woll verheiratet.
Simon Kaupert, der auch aussagte, ist das Gesicht der rechten Organisation „Ein Prozent für Deutschland“ und gründete den Würzburger Pegida-Ableger „Wügida“.
Thomas Scharfy, 2018 Listenplatz 5, war/ist aktiv in der „Nationalen Aktionsfront Winnenden“.

Auch wenn Zentrum Automobil angeblich in der Mitte der Gesellschaft zu verorten sei, zeigte sich abgesehen von den vielfältigen Verbindungen der ZA-Mitglieder in die militante Naziszene bei einer Veranstaltung am 16.05.21, dem Jahrestag des hier verhandelten Vorfalls in Cannstatt, was unter dieser „Mitte“ zu verstehen ist. Teilnehmer der Kundgebung waren unter anderem Angehörige des völkisch-nationalistischen Flügels der AfD, NPD-Mitglieder, Aktivisten der Identitären Bewegung, die faschistische Kleinstpartei III. Weg sowie mehrere Naziskinheads. Das eine solche Mischung gefährlich ist, zeigten die letzten Jahre: regelmäßig werden bei den Querdenker-Demonstrationen Journalisten angegriffen, fast wöchentlich gibt es neue Fälle von rechten Chatgruppen bei der Polizei und Bundeswehrsoldaten, die Waffen und Munition entwenden, ganz zu schweigen von den gezielten Morden der Rechtsterroristen von Halle und Hanau. Um diesen Rechtsruck aufzuhalten, muss man ihm mit vielfältigen Aktionsformen entgegentreten. Dabei geht es darum, das öffentliche Auftreten von Faschisten zu verhindern. Nazis sollten immer, sobald sie versuchen ihre Hetze auf die Straße zu tragen, mit Widerstand rechnen, damit sie es sich zweimal überlegen, ob sie ihre Propaganda, die seit 1990 zu mindestens 187 Todesopfern geführt hat, weiterverbreiten wollen.

Der deutsche Staat hat kein Interesse daran, dass es eine starke und kämpferische Arbeiterbewegung gibt, da er das politische Werkzeug der Kapitalistenklasse ist, also derer, die den ganzen Reichtum besitzen und mit diesem Staat ihre Interessen durchsetzen. Kurzarbeit, Entlassungen, Altersarmut sind Auswirkungen des Kapitalismus mit seinen alle 10-12 Jahre wiederkehrenden Krisen. Um also ein für alle Mal mit den Existenzängsten Schluss zu machen und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, müssen wir den Kapitalismus beenden und an seiner Stelle den Sozialismus aufbauen. Die Geschichte zeigt, dass die Herrschenden in Zeiten einer drohenden Revolution immer auf die Faschisten zurückgreifen, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und so ihre Macht erhalten. Zurzeit droht zwar aufgrund der Schwäche der kommunistischen Bewegung keine Gefahr für den Reichtum der Firmenbesitzer und Konzernchefs, jedoch nimmt im Zuge der durch Corona noch verstärkten Wirtschaftskrise die allgemeine Unzufriedenheit mit diesem System zu. Deswegen reagiert die herrschende Klasse gerade jetzt mit massiver Repression auf linke und revolutionäre Bewegungen. Dazu gehören die Inhaftierung unseres Genossen Findus Mitte Juli und das Antifa-Ost Verfahren gegen Lina und drei weitere Antifas, denen in Leipzig die Bildung einer kriminellen Vereinigung nach §129 aufgrund von militanten Aktionen gegen Nazis vorgeworfen wird, ebenso die §129 Verfahren in Hamburg und Frankfurt sowie eh und je gegen türkische und kurdische Kommunistinnen, aber eben auch dieser Prozess gegen Diyar und mich.

Solchen Angriffen auf unsere Bewegung kann nur durch uneingeschränkte Solidarität miteinander – unabhängig vom jeweiligen Tatvorwurf – begegnet werden, denn der Staat will mit Repression im Allgemeinen und Knast im Besonderen vor allem spalten und einzelne Personen isolieren. Wenn man in Haft sitzt und von Solidaritätsaktionen mitbekommt, gibt einem das unglaublich viel Stärke, wie ich und sicherlich alle anderen Betroffenen erfahren durften. Dafür mein Danke an alle, die sich bis über Deutschlands Grenzen hinaus an all den Solidaritätsaktionen beteiligt haben.

Letztendlich ist es egal, wer von uns vor dem Richter steht, wir können als Bewegung alles überstehen, solange wir jedem Angriff auf uns gemeinsam begegnen, solange wir niemanden alleine lassen, solange wir vereint gegen den Faschismus kämpfen!

Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Hoch die internationale Solidarität!