[Interview] »Im Raum Stuttgart gab es eine wahre Prozessflut«

Über die polizeilichen Ermittlungen im Verfahren gegen die Antifaschisten Jo und Dy, der Zunahme der Repression gegen Links und wie sich die Antifaschitsiche Bewegung dagegen wehren muss spricht Anja Sommerfeld (Bundesvorstand der Roten Hilfe) in der “Jungen Welt”

Zwei Antifaschisten sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft. Rote Hilfe organisiert Unterstützung. Ein Gespräch mit Anja Sommerfeld

Die Rote Hilfe fordert die sofortige Freilassung von zwei Antifaschisten, die im Gefängnis Stuttgart-Stammheim sitzen. Die als Jo und Dy bekannten Aktivisten waren im Zusammenhang mit einer körperlichen Auseinandersetzung mit stramm Rechten am Rand einer Demonstration der Initiative »Querdenken 711« am 16. Mai 2020 festgenommen worden. Was war damals los?

An besagter »Querdenken«-Demons­tration beteiligten sich nicht nur Coronaleugnerinnen und -leugner, sondern auch die von Neonazis gegründete Pseudogewerkschaft »Zentrum Automobil«. Gegen den rechten Aufmarsch formierte sich an dem Tag antifaschistischer Protest. In der Nähe der Mercedes-Benz-Arena kam es dann zu der Auseinandersetzung, bei der Anhänger von »Zentrum Automobil« verletzt wurden. Seither ermittelte die Polizei nicht nur wegen Landfriedensbruchs, sondern wegen des aus unserer Sicht völlig überzogenen Vorwurfs des versuchten Totschlags. Monate später wurden in dem Zusammenhang Hausdurchsuchungen durchgeführt und dabei zwei Antifaschisten inhaftiert. Jo sitzt bereits seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft, seit dem 2. Juli 2020. An diesem Tag fanden insgesamt neun Durchsuchungen in verschiedenen Städten in Baden-Württemberg statt. Dy wiederum wurde am 4. November nach einer weiteren Wohnungsdurchsuchung in Stuttgart inhaftiert.

In dem Zusammenhang war die polizeiliche Ermittlungsgruppe »Arena« tätig. Was wissen Sie über deren Vorgehen?

Diese eigens eingesetzte Ermittlungsgruppe hat repressive Maßnahmen wie offene Observationen genutzt. Beamte stellten sich gegenüber von linken Wohnprojekten auf die andere Straßenseite, um die Bewohner zu beobachten und zugleich Angst zu erzeugen. Der Staatsschutz wiederum versuchte mit Hilfe sogenannter Anquatschversuche, Informationen zu erhalten. Weiterhin gab es staatsanwaltliche Zeugenvorladungen und jene erwähnte großangelegte Razzia am 2. Juli, bei der mehrere Personen zur Abgabe ihrer DNA gezwungen wurden. Bei solchen Verfolgungsmaßnahmen geht es in der Regel darum, Mitglieder der linken Szene zu kriminalisieren. Bekanntermaßen machen Rechte häufig bei der Polizei Anzeige, während Linke eher darauf verzichten, damit sie nicht selber ins Visier geraten. So können sich Nazis in der Opferrolle wähnen.

Einer der Betroffenen der Hausdurchsuchungen war ein Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Tobias Pflüger von Die Linke, obwohl der Mann nachweislich am 16. Mai nicht in Stuttgart gewesen ist.

Das Verfahren gegen ihn musste eingestellt werden. Angesichts der Razzia mit vielen Unbeteiligten stellt sich die Frage, ob hier nicht generell die linke Szene im Südwesten durchleuchtet werden sollte. Pikant an dem Fall ist zudem, dass der Beschuldigte als Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten im Homeoffice tätig war und dort brisante interne Arbeitsdokumente verwahrte. Obwohl die Polizei sich dessen bewusst war, weigerte sie sich wochenlang, die Unterlagen zurückzugeben. Pflüger sah sich schließlich gezwungen, eine Beschwerde wegen Verletzung seiner Abgeordnetenrechte einzureichen.

Welche Rolle spielt die »grün-schwarze« Landesregierung in Baden-Württemberg bei dem Vorgehen?

Wir registrieren seit Jahren, dass baden-württembergische Behörden auffallend rigide gegen linke Aktivistinnen und Aktivisten vorgehen. Unter CDU-Innenminister Thomas Strobl hat sich die Situation verschärft. Immer öfter werden Linke für ihr Engagement gegen rechts zu Bewährungs- oder Haftstrafen verurteilt. Im Raum Stuttgart gab es eine wahre Prozessflut.

Wie kann sich die antifaschistische Bewegung dagegen wehren?

Es geht darum, die Betroffenen nicht alleinzulassen und politische wie praktische Solidarität zu organisieren – sei es durch Öffentlichkeitsarbeit zu Prozessen, Kundgebungen vor den Gerichten und Gefängnissen oder finanzielle Unterstützung.